Was mir persönlich in all den hitzigen Debatten, die in letzter Zeit rund um diese Themen geführt wurden, zu kurz kommt, ist der gemeinsame Blick auf die beste Strategie. Fast alle hacken auf die Regierung ein, sowohl auf die Bundes- als auch auf die Länderregierungen. Die Regierungen versuchen es so zu lösen, wie sie es immer gemacht haben, nämlich mit einem Kompromiss und "von allem etwas". Heraus kommt dabei auch sonst meist nichts Halbes und nichts Ganzes, aber im Fall der Pandemie ist ein unabsehbar dauerhafter Zustand zwischen "ein bisschen Lockdown" und "ein bisschen Öffnen" einfach zu sehr belastend. Denn laufend sterben hunderte Menschen jeden Tag, werden Existenzen zerstört und Menschen gebrochen, durch Krankheitsverläufe am Virus oder durch wirtschaftliche und psychische Folgen. Das ist kein Zustand, in dem "von allem etwas" akzeptabel ist.

Nun kommt die Regierungskritik im wesentlichen von zwei entgegengesetzten Seiten. Was man nicht aus dem Auge verlieren darf, ist, dass beide Seiten letztlich das gleiche wollen: nämlich die Pandemie überwinden und ein gesellschaftliches Leben wie in der Zeit davor. Der Unterschied liegt in der dazu favorisierten Strategie. Die eine Seite will das Virus durch Eindämmen bezwingen, die andere will Normalität durch rasche Durchseuchung. Deshalb fordert die eine Seite ein paar Wochen richtigen Lockdown, um das Virus wieder unter volle Kontrolle zu bekommen. Im Verbund mit Impfungen und konsequenter Rückverfolgung auftretender Einzelfälle wäre dann aber wieder ein normales gesellschaftliches Leben möglich. Die andere Seite dagegen fordert die sofortige Rückkehr zur Normalität, was dem Virus alle Schleusen öffnen würde, bis Herdenimmunität erreicht ist. Auch dabei wird - zumindest unter den Informierteren - auf Abmilderungseffekte durch Impfungen gehofft.

So weit die reine Strategie-Debatte. Die muss geführt werden. Im wissenschaftlichen Diskurs der Virologen ist das auch zweifellos der Fall. Doch im gesellschaftspolitischen Kontext und im Lebensalltag der Menschen kommen so viele andere Aspekte dazu, dass sich die Diskussionen und die Positionsbeziehungen von der eigentlichen Strategie-Diskussion immer weiter entfernen. Dort werden die beiden Positionen zu "links" und "rechts". Die "linke" Position ist die Eindämmungsposition, und die rechte die Durchseuchungsposition. Beide garniert mit Attributen wie "solidarisch" einerseits, und "natürlich" andererseits. Beide fahren sich fest bis hin zur Forderung nach Scientokratie einerseits und reichsbürgernahen Protestformen andererseits.

Ich möchte keinen Hehl daraus machen, dass ich selber in dieser Debatte ebenfalls eine klare Position habe. Für mich ist die Eindämmungsstrategie die einzig mögliche "zivilisierte" Strategie. Durchseuchung war der übliche und kaum vermeidbare Weg in früheren Zeiten gewesen. Doch mittlerweile haben wir als Menschheit so viel Aufwand betrieben, um uns medizinisch zu schützen, und um Hygiene und Daseinsvorsorge aller Art zu ermöglichen, dass ein unvermeidliches und elendes, weil medizinisch nicht mehr begleitbares Massensterben ethisch einfach nicht mehr in die Zeit passt.

Die Rolle der Impfungen ist dabei durchaus mitgedacht. Selbstverständlich wird die zunehmende Durchimpfung eine "natürliche" Durchseuchung abfedern. Doch erstens wird es wahrscheinlich noch mehrere Jahre dauern, bis Impfstoffe so ausgereift sind, dass der Impfschutz länger als nur ein paar Monate anhält und auch resistent ist gegen weitere Virus-Mutationen. Und zweitens werden die Impfungen global betrachtet noch über Jahre hinweg oder sogar dauerhaft ein First-World-Privileg bleiben, dem Patentschutz sei dank. Im globalen Süden wird dann einfach weiter gestorben, was interessiert es uns, nicht wahr?

Doch selbst mit einer bewussten Regierungsentscheidung für ungebremste Durchseuchung könnte ich mich noch eher anfreunden als mit dem halbgaren Herumeiern zwischen Teil-Lockdown und Modellversuchen. Dann müsste ich mich eben so gut es geht auf eigene Faust schützen. Oder für eine Weile lang auswandern. Oder was weiß ich. Doch der aktuelle Zustand ist unwürdig. Zumal so offensichtlich ist, was die Regierungen antreibt, so zu handeln, bzw. nicht zu handeln. Es sind die Interessen der aktien-basierten Industrie-Konzerne, die sich bei ihren Shareholdern keine Ausfälle oder gar Gewinneinbrüche im größeren Stil meinen leisten zu können. Dass für viele führende Politiker gerade das die Leitschnur ihres Handelns oder Herumeierns ist, liegt nicht nur an den gut aufgestellten Lobbystrukturen dieser Konzerne, sondern geschieht in den meisten Fällen nicht ohne eigennützige Hintergedanken. Denn schließlich sind ja eintragsreiche Posten oder Ehrenposten in solchen Konzernen das übliche Auffangbecken für aus dem Amt scheidende Politiker. Zumindest bei der Riege, die derzeit fast überall an der Macht ist.

Bei immer größeren Teilen der Bevölkerung wird das glücklicherweise zunehmend als Ungeheuerlichkeit wahrgenommen. Beim demokratie-verachtenden rechten Rand seit jeher, doch mittlerweile auch bei immer mehr normalen Bürgern, denen in dieser Pandemiekrise erstmals ihre Loyalität zum Staat abhanden zu kommen droht. Daher das heftige Einhacken auf die Regierung, von allen Seiten aus. Zumindest auf Bundesebene wirken die Protagonisten, gegen die sich all der Zorn richtet, immer mehr wie irrlichternde Zombies, die irgendwie noch versuchen, die paar Monate bis zur Bundestagswahl zu überstehen, um dann erschöpft ihre Ämter abzugeben und in die Arme der Konzerne zu sinken. Dem Virus gefällt das.