Wohl kaum eine Eigenschaft wird von mir als zivilisiertem Weltbürger wohl vehementer gefordert als Toleranz. Nur wer akzeptiere, dass die eigene Weltsicht nicht die einzig Wahre sein kann, werde der Komplexität der heutigen Gesellschaft gerecht. Kann ich mir einen eigenen Standpunkt überhaupt noch leisten?

Ein eigener Standpunkt bedeutet für mich, festen Boden unter den Füssen zu haben. Auf gewisse Grundwahrheiten zu vertrauen und auf diesem Fundament aufzubauen. Dies bedingt auch, Grenzen zu ziehen; es bedeutet Wahr und Falsch, Gut und Böse zu unterscheiden. Kritiker werden mir vorwerfen, dass ich damit den Dialog verunmögliche, andere Menschen unvermeidlich diskriminiere und mich hinter meinen Privilegien als weisser, gut gebildeter und heterosexueller Mann verstecke. Doch ich bin überzeugt: Genau das Gegenteil ist der Fall. Nur durch festen Boden unter den Füssen wird Toleranz erst möglich.

Vor einigen Wochen hat mein Bruder Emanuel Hunziker auf diesem Blog die Frage aufgeworfen, wie wir in der heutigen Zeit effektiv über Jesus reden und das Evangelium verkündigen können. Die Ansätze, welche wir uns als Kirchen über Jahrzehnte antrainiert haben, scheinen in der heutigen pluralistischen Gesellschaft an Effektivität eingebüsst zu haben. Was ist also zu tun? In seinem lesenswerten Artikel hat Emanuel einige Ansätze dazu aufgezeigt und er schloss in Anlehnung an Dr. Timothy Keller und Prof. John Inazu mit einem Aufruf zur Demut, Geduld und Toleranz. Diesen drei Begriffen möchten wir in einer Kurzserie noch genauer auf den Grund gehen - wir starten mit der Toleranz.

Alles fordert Toleranz

Toleranz. Ein belasteter Begriff, dessen sich heute viele Meinungsmacher bedienen. Mir scheint, dass Toleranz für manche Kreise zum Inbegriff des moralischen Massstabes geworden ist. Sei tolerant. Diese Haltung ist ja völlig intolerant. Jene Geste wird als Musterbeispiel von gelebter Toleranz gefeiert. Wohin man schaut, wird Toleranz gefordert und gefeiert. Wir haben doch alle die gleichen Rechte. Wie kann man denn einem lesbischen Paar das Recht auf Kinder verweigern wollen? Wie kann man eine Frau zwingen, ihren Fötus auszutragen und für das Kind zu sorgen? Ist das nicht die Entscheidung jedes Einzelnen? Mehr Toleranz bitte. Mehr Toleranz. Das Einzige, was nicht tolerabel ist, ist Intoleranz. Spröder Konservatismus, verknorrtes, rückständiges, chauvinistisches Gedankengut. Das geht gar nicht.

Ja, wir Kirchen haben nicht gerade den besten Ruf, was Toleranz angeht. Im Gegenteil. Meint nun also Tim Keller mit seinem Aufruf zur Toleranz, dass wir Christen unser orthodoxes Bibelverständnis aufgeben und uns den gesellschaftlichen Strömungen endlich öffnen sollen? Dass sich unsere Kirchen wieder füllen würden, wenn wir nur etwas weltoffener mit den Entwicklungen unserer Zeit umgehen würden? Wohl kaum - Keller wäre wohl der Letzte, der sein durchaus orthodoxes und in der Kirchentradition gut verankertes Bibelverständnis über Bord werfen würde. Was ist denn damit gemeint, dass wir Toleranz benötigen, um heute das Evangelium zu verkündigen?

Anything Goes?

Wer heute von Christen und Kirche Toleranz fordert, meint im Allgemeinen, dass wir Christen doch bitte sehr akzeptieren sollen, dass sich die Zeiten geändert haben. Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Monogame Sexualethik, Unterdrückung der Frau (z.B. in Form von verwehrten Abtreibungen) und Leugnung von Homosexualität passen doch einfach nicht mehr ins aufgeklärte 21. Jahrhundert. Kein Wunder, werden die Kirchenbänke leerer. Wer will sich denn noch so was anhören?

Aber heisst Toleranz wirklich, dass ich meine Grenzen von Wahrheit und von Gut und Böse verschieben muss? Bedeutet Toleranz, dass ich abweichende Meinungen und Deutungen als richtig gelten lassen muss? Bin ich tolerant, wenn ich alles akzeptiere? Ich glaube nicht. Eric Gujer, der Chefredaktor der NZZ, bringt das meiner Meinung nach in einem Kommentar zur "Burkadebatte" von 2016 gut auf den Punkt:

Toleranz bedeutet nicht, alles anzuerkennen, was von aussen an eine Gesellschaft herangetragen wird. Diese Feststellung muss man sich in Zeiten von Globalisierung, Migration und einem verbreiteten Gefühl des «Anything goes» immer wieder in Erinnerung rufen. Auch der weltoffene, freiheitlich-pluralistische Staat hat die Aufgabe, eigene Massstäbe zu setzen und zu verteidigen. Eric Gujer, NZZ

Das Selbe gilt auch für die Kirche: Toleranz kann nicht bedeuten, alle gesellschaftlichen Entwicklungen und Strömungen gutzuheissen. Im Gegenteil: Tolerant zu sein bedingt einen eigenen, überzeugten Standpunkt. Nur wenn ich meinen Standpunkt kenne, kann ich die Welt um mich herum wahrnehmen und betrachten. Nur wenn ich meinen Standpunkt kenne, kann ich auch meine eigenen Brille kritisch betrachten und von anderen betrachten lassen. Nur wenn ich meinen Standpunkt kenne, kann ich auf Andere zugehen und in den Dialog treten. Kein Dialog ohne Toleranz - aber auch kein Dialog ohne Standpunkte. Das Motto "Anything goes" erstickt jede ernsthafte Diskussion im Keim.

Die Grenze überschritten

Ich fahre über die Landstrasse, das Wetter ist schön, die Musik passt. Herrlich, wie der Sportwagen jede Kurve nimmt. Das Röhren des V8 Motors lässt mir die Nackenhaare aufstehen. Doch gerade als ich genussvoll die weitläufige Linkskurve in Angriff nehme, werde ich trotz Sonnenbrille für Sekundenbruchteile geblendet. "Mist! Geblitzt!" denke ich, mein Blick sucht die Tachonadel. 92. "Hm - wenn ich Glück habe, bin ich vielleicht gerade noch in der Toleranz?" Die Stimmung ist dahin. "Spassbremsen, diese Bullen."

Vielleicht geht meine Hoffnung in Erfüllung und die Busse trifft tatsächlich nicht ein. Vielleicht war ich tatsächlich "in der Toleranz". Doch heisst das, dass der Staat meine Fahrweise an diesem Nachmittag gut heisst? Ist die Toleranz der Radarmessung das Eingeständnis des Gesetzgebers, dass eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 80 km/h doch eigentlich ziemlich langweilig ist? Eine verdeckte Erweiterung des erlaubten Geschwindigkeitsbereiches? Auf gar keinen Fall. Wenn mir jemand mit 100% Sicherheit hätte nachweisen können, dass ich mit 92 km/h unterwegs war, wäre mir die Busse sicher gewesen. Der Toleranzbereich existiert nicht, weil dir Grenzen aufgeweicht wurden. Sondern nur, weil in diesem Fall die Messmethode nicht exakt genug ist und das Prinzip "Im Zweifelsfall für den Angeklagten" gilt.

Wer etwas toleriert, der stellt damit gleichzeitig fest, dass das Gegenüber eine Grenze überschritten, sich aus dem Bereich des Wahrhaftigen und Guten entfernt hat. Ansonsten lohnt es sich nicht, von Toleranz zu sprechen - Akzeptanz wäre dann der treffendere Begriff.

In Bezug auf Themen des Glaubens drückt es amerikanische Autor Abdu Murray folgendermassen aus:

Toleranz funktioniert nur bei Unterschieden, nicht bei Gleichheit. Niemand muss Ideen tolerieren, welche sich von den eigenen Ideen kaum unterscheiden. Eigentlich ist es in solchen Situationen sinnlos, von Toleranz zu sprechen. Toleranz impliziert nicht nur Unterschiede, sondern auch Belastung und Spannung aufgrund dieser Unterschiede. Wir messen die Stärke von Metallen, indem wir untersuchen wie sie Belastungen wie z.B. Vibration, Hitze und Kälte tolerieren. Genauso kann unser Mass an Toleranz an der entstehenden Spannung durch konkurrierende religiöse Behauptungen gemessen werden. Wir tolerieren uns gegenseitig wahrhaftig, wenn unsere gegensätzlichen Behauptungen Spannung auslösen. Verschiedene religiöse Glaubenssätze bringen uns dazu, unsere eigenen Glaubenssätze zu testen. Das ist wahre Toleranz. Und Toleranz kann zu Klarheit führen. Abdu Murray, Saving Truth, Kindle Position 196, eigene Übersetzung

Meinen eigenen Standpunkt zu kennen bedeutet dabei nicht, dass ich starrsinnig darauf bestehe und keine andere Meinung gelten lasse - das wäre die Definition von Intoleranz. Genausowenig gilt aber, dass Toleranz bedeutet, meinen Standpunkt aufzugeben.

Toleranz führt in den Dialog

Toleranz bedeutet, meinen Standpunkt und meine Grenzen zu kennen, und diese im unermüdlichen, respektvollen, wertschätzenden Dialog zu testen und zu schärfen. Und ja, manchmal bedeutet dies auch, meinen Standpunkt zu verschieben oder meine Grenzen weiter oder enger zu fassen. Nicht, weil irgendjemand einen anderen Standpunkt hat und ich diesen ja als genauso richtig wie meinen akzeptieren muss. Sondern weil ich durch eine sorgfältige Auseinandersetzung und einen respektvollen Dialog überzeugt wurde.